Baltic Peripeties Blog

Exklusion, Assimilation, Resignation. Zum Scheitern der „folkhem“-Utopie in Ann-Helén Laestadius‘ Roman „Stöld“

Narratives

Die schwedische Ausgabe von Ann-Helén Laestadius' Roman „Stöld“ (2021).

Die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten gelten mit ihrer sozialdemokratischen Ausrichtung weltweit als Musterbeispiele für soziale Sicherheit und Egalität. In Schweden hat diese Gesellschaftsvision 1928 von dem Sozialdemokraten und ehemaligen Ministerpräsidenten Per Albin Hansson einen Namen bekommen: folkhem (Volksheim). Mit dieser erzählerischen Verbindung der Aspekte der Volksgemeinschaft in einem modernen Nationalstaat und der familiären Gemeinschaft im Heim entstand das Bild Schwedens als Zuhause für seine Bürger*innen. Diese Vorstellung vom Heim wurde von Hansson untrennbar mit Begriffen wie Gemeinschaft, Zusammenhalt, Solidarität, Gerechtigkeit und Gleichheit angereichert:

Det goda hemmet känner icke till några privilegierade eller tillbakasatta, inga kelgrisar och inga styvbarn.

[„Das gute Heim kennt keine privilegierten oder zurückgesetzten Menschen, keine Lieblinge und keine Stiefkinder.“]*

Dass aber auch die Fassade des schönsten Heims stellenweise bröckelt, haben Minderheitengruppen immer wieder kritisiert und darauf aufmerksam gemacht, dass die Versprechen des folkhem nicht ausnahmslos für alle Bürger*innen gelten. Denn um Gleichheit und Zusammenhalt erreichen zu können, bedurfte es in der Vorstellung der Konstrukteure des folkhem-Projekts einer möglichst homogenen Gesellschaft. Konkret bedeutete das nicht nur, Klassenunterschiede und andere Kategorien der sozialen Hierarchisierung politisch herunterzuspielen, sondern auch Ausschluss- und gewaltvolle Assimilationsmechanismen voranzutreiben. Eine dieser Minderheitengruppen, die konzeptuell aus dem folkhem-Projekt ausgeschlossen und Opfer von Assimilationsbestrebungen wurde, ist das indigene Volk der Sámi.

In ihrem Roman Stöld (deutsche Übersetzung: Das Leuchten der Rentiere) schildert Ann-Helén Laestadius diese Widrigkeiten, mit denen die Mitglieder einer sámischen Gemeinschaft, die in Nordschweden Rentierhaltung betreibt, tagtäglich konfrontiert sind.

In meiner Bachelorarbeit habe ich mich mit dem im Roman dargestellten Verhältnis einiger sámischer Protagonist*innen zum Polizei- und Gesundheitswesen als Teile des schwedischen Sozialstaats beschäftigt. Für diese Bereiche konnte ich jeweils ein von Resignation geprägtes Erzählmuster herausarbeiten, das sich zu einem übergreifenden literarischen Narrativ verfestigt. Unter einem Narrativ verstand ich dabei in Anlehnung an die von Gerald Prince formulierten Minimalbedingungen narrativer Strukturen ein semiotisches Kommunikat, aus dem sich propositionale Beschreibungen für die temporalen Zustände des Ausgangszustands, des Veränderung auslösenden Ereignisses und des Endzustands, der sich vom Ausgangszustand in mindestens einem Merkmal unterscheidet, ableiten lassen.

Diese narrative Struktur ließ sich in allen Erzählungen des im Roman behandelten Verhältnisses der sámischen Protagonist*innen zum Polizeiwesen identifizieren. Von den einzelnen Erzählungen abstrahiert habe ich die narrative Struktur wie folgt zusammengefasst:

  1. Eine Figur wird Zeugin eines Rentiermords oder eines rassistischen Verbrechens gegen die Sámi, ruft die Polizei und hofft (trotz negativer Vorerfahrungen und dem Wissen um die geringe Priorisierung ihrer Belange) auf die Hilfe der Polizei im vorliegenden Fall.
  2. Die Polizei erscheint nicht oder nimmt die Belange der Sámi nicht ausreichend ernst, sodass die Anzeige fallengelassen wird.
  3. Die Figur erlebt eine weitere Enttäuschung, die akkumuliert mit all den anderen negativen Vorerfahrungen in einer resignativen Haltung kulminiert. Im schlimmsten Fall bittet die Figur die Polizei beim nächsten Verbrechen nicht mehr um Hilfe.

Auch im Bereich der medizinischen Betreuung konnte ich wiederholt Erzählungen von enttäuschtem Vertrauen in die Institutionen des Gesundheitswesens herausarbeiten, die sich narrativ strukturiert wie folgt darlegen ließen:

  1. Eine Figur benötigt medizinische Hilfe und möchte die Institutionen des Gesundheitswesens in Anspruch nehmen.
  2. Die Figur erlebt, dass auf die medizinische Nothilfe des Rettungsdiensts nicht rund um die Uhr Verlass ist oder dass sie vom medizinisch-psychologischen Personal nicht verstanden wird.
  3. Die Figur fühlt sich alleingelassen in ihrem Leid und erlebt Gefühle der Hoffnungslosigkeit und Erschöpfung.

Neben solchen Benachteiligungsstrukturen im Polizei- und Gesundheitswesen, die eine Interpretation der Haltung der sámischen Figuren zu diesen Instanzen des folkhem als resignativ erlauben, thematisiert der Roman weitere Aspekte der Diskriminierung, die zur erzählungsprägenden Resignation beitragen und sich insgesamt zu einem komplexen Narrativ der Resignation zusammenfügen:

  1. Eine Figur beharrt auf die ihr per Gesetz zustehenden Bürgerrechte des folkhem.
  2. Eine Figur macht negative Erfahrungen, die aus historisch gewachsenen Diskriminierungsstrukturen resultieren.
  3. Eine Figur nimmt eine resignative Haltung ein.

Diese Resignation macht sich bei unterschiedlichen Figuren verschieden bemerkbar. Manche Figuren reagieren auf die Diskriminierung damit, dass sie sich klein machen: „Hon måste göra sig liten, nästan osynlig“ [„Sie musste sich klein machen, fast unsichtbar“] und ob ihrer Sorgen schweigen: „Egentligen var det bäst att vara tyst om det mesta om man frågade mamma.“ [„Eigentlich war es das Beste, über die meisten Dinge zu schweigen, wenn man Mama fragte.“] Andere Figuren neigen zu Wutausbrüchen: „Han ville bara ut, bort från alla, det var som att ha en tryckkokare i kroppen, så jävla arg var han.“ [„Er wollte einfach nur raus, weg von allen, es war, als hätte er einen Druckkochtopf in seinem Körper, so verdammt wütend war er.“] Gemeinsam haben alle sámischen Protagonist*innen allerdings, dass sie früher oder später Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit angesichts der multiplen Ungerechtigkeiten, denen sie tagtäglich gegenüberstehen, verspüren: „Elsa kände en plötslig trötthet. Hon hade redan försökt den här vägen, det skulle bara slå tillbaka.“ [„Elsa spürte eine plötzliche Müdigkeit. Das hatte sie schon versucht, es würde nur nach hinten losgehen.“] Die Folge sind gesundheitliche Probleme, vor allem psychischer Natur. Manche Protagonist*innen verarbeiten das kollektive Trauma, indem sie den Schmerz betäuben: „Jag behöver cigg och dricka. […] Dricka, bara bedöva lite av irritationen som kliade i hela kroppen“ [„Ich brauche Zigaretten und etwas zum Trinken. […] Trinken, nur um die Gereiztheit zu betäuben, die mich am ganzen Körper juckte“]; oder versuchen, über das Erlebte zu lachen, um nicht daran zu zerbrechen: „Man måste skratta för annars dör kroppen inifrån.“ [„Man muss lachen, sonst stirbt der Körper von innen heraus.“] Andere Figuren können mit dem Berg an täglichen Sorgen nicht länger umgehen und stürzen in eine lebensverneinende Resignation:

Tänk om det var de som tog livet av sig som gjorde rätt? Som sa att det inte gick längre och lämnade allt som gjorde ont. Som gav hela världen ett statement. Se vad ni driver oss till? Vi orkar inte mer. Vi tar heller livet av oss än ser våra renar plågas och dödas samtidigt som vi hör er hata oss.

[„Was, wenn diejenigen, die sich umgebracht haben, das Richtige getan haben? Die gesagt haben, dass sie es nicht mehr aushalten und alles zurückließen, was wehtut. Die der ganzen Welt ein Statement gesetzt haben. Seht, wozu ihr uns treibt? Wir können es nicht mehr ertragen. Wir bringen uns lieber um, als zuzusehen, wie unsere Rentiere gequält und getötet werden, während wir hören, dass ihr uns hasst.“]

Besonders diese Erzählungen von psychischer Krankheit, Trauma und Selbstmordgedanken untergraben die Legitimität des folkhem-Projekts aus vertragstheoretischer Perspektive. Ein Gesellschaftsvertrag, bei dem die Bürger*innen Teile ihrer Autonomie im Tausch gegen umfassende Sozialleistungen abgeben, kann als gebrochen gelten, wenn staatliche Behörden diese Vertragsbedingungen nicht gegenüber allen Bürger*innen einhalten. Besonders der schwedische Sozialstaat, der sich mit Gleichheitsbestrebungen und universellen Sozialleistungen rühmt, wird durch die im Roman hervorgetretenen Ausschlussmechanismen und Dysfunktionalitäten in ein fragwürdiges Licht gerückt. Die Erzählungen des staatlichen Versagens im Roman und deren Analyse bringen daher eine wichtige Kritik in die gesellschaftspolitische Debatte über die Gestaltung des Zusammenlebens ein und heben dabei eine Minderheitenperspektive hervor, die im Stimmengewirr oft unterzugehen droht.

Literatur als Medium vermag es in diesem Sinne nicht nur, gesellschaftlich relevante Themen zu behandeln, sondern diese in vielen Fällen erst auf die politische Agenda zu setzen beziehungsweise ein gesellschaftliches Bewusstsein für ein Thema zu schaffen.

* Alle Übersetzungen aus dem Schwedischen durch die Autorin, L.P.

Literaturliste / Zum Weiterlesen
  • Hansson, Per Albin, Auswahl und Einleitung Anna Lisa Berkling. Från Fram till folkhemmet: Per Albin Hansson som tidningsman och talare. Solna: Metodica Press, 1982.
  • Laestadius, Ann-Helén. Stöld. Stockholm: Romanus & Selling, 2021.
  • Laestadius, Ann-Helén. Das Leuchten der Rentiere. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2022.
  • Prince, Gerald. A Grammar of Stories. An Introduction. Den Haag, Paris: Mouton, 1973.
  • Räthel, Clemens. „Infecting the Welfare State – The Swedish Play Kurage and the ‚AIDS Crisis,‘“ Acta Universitatis Carolinae Philologica 1 (2021): 37-51.
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