Die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten gelten mit ihrer sozialdemokratischen Ausrichtung weltweit als Musterbeispiele für soziale Sicherheit und Egalität. In Schweden hat diese Gesellschaftsvision 1928 von dem Sozialdemokraten und ehemaligen Ministerpräsidenten Per Albin Hansson einen Namen bekommen: folkhem (Volksheim). Mit dieser erzählerischen Verbindung der Aspekte der Volksgemeinschaft in einem modernen Nationalstaat und der familiären Gemeinschaft im Heim entstand das Bild Schwedens als Zuhause für seine Bürger*innen. Diese Vorstellung vom Heim wurde von Hansson untrennbar mit Begriffen wie Gemeinschaft, Zusammenhalt, Solidarität, Gerechtigkeit und Gleichheit angereichert:
Det goda hemmet känner icke till några privilegierade eller tillbakasatta, inga kelgrisar och inga styvbarn.
[„Das gute Heim kennt keine privilegierten oder zurückgesetzten Menschen, keine Lieblinge und keine Stiefkinder.“]*
Dass aber auch die Fassade des schönsten Heims stellenweise bröckelt, haben Minderheitengruppen immer wieder kritisiert und darauf aufmerksam gemacht, dass die Versprechen des folkhem nicht ausnahmslos für alle Bürger*innen gelten. Denn um Gleichheit und Zusammenhalt erreichen zu können, bedurfte es in der Vorstellung der Konstrukteure des folkhem-Projekts einer möglichst homogenen Gesellschaft. Konkret bedeutete das nicht nur, Klassenunterschiede und andere Kategorien der sozialen Hierarchisierung politisch herunterzuspielen, sondern auch Ausschluss- und gewaltvolle Assimilationsmechanismen voranzutreiben. Eine dieser Minderheitengruppen, die konzeptuell aus dem folkhem-Projekt ausgeschlossen und Opfer von Assimilationsbestrebungen wurde, ist das indigene Volk der Sámi.
In ihrem Roman Stöld (deutsche Übersetzung: Das Leuchten der Rentiere) schildert Ann-Helén Laestadius diese Widrigkeiten, mit denen die Mitglieder einer sámischen Gemeinschaft, die in Nordschweden Rentierhaltung betreibt, tagtäglich konfrontiert sind.
In meiner Bachelorarbeit habe ich mich mit dem im Roman dargestellten Verhältnis einiger sámischer Protagonist*innen zum Polizei- und Gesundheitswesen als Teile des schwedischen Sozialstaats beschäftigt. Für diese Bereiche konnte ich jeweils ein von Resignation geprägtes Erzählmuster herausarbeiten, das sich zu einem übergreifenden literarischen Narrativ verfestigt. Unter einem Narrativ verstand ich dabei in Anlehnung an die von Gerald Prince formulierten Minimalbedingungen narrativer Strukturen ein semiotisches Kommunikat, aus dem sich propositionale Beschreibungen für die temporalen Zustände des Ausgangszustands, des Veränderung auslösenden Ereignisses und des Endzustands, der sich vom Ausgangszustand in mindestens einem Merkmal unterscheidet, ableiten lassen.
Diese narrative Struktur ließ sich in allen Erzählungen des im Roman behandelten Verhältnisses der sámischen Protagonist*innen zum Polizeiwesen identifizieren. Von den einzelnen Erzählungen abstrahiert habe ich die narrative Struktur wie folgt zusammengefasst: