Lesungen und Diskussionen von und mit Anne Rabe (Autorin, Berlin) und Daniel Schulz (Autor, Berlin) im Rahmen des Seminars “Nach-Wende-Narrationen” am Institut für Deutsche Philologie in Kooperation mit dem Internationalen DFG-Graduiertenkolleg “Baltic Peripeties. Narratives of Reformations, Revolutions and Catastrophes”
In der laufenden Debatte um den „Osten“ und um „Ostdeutschland“, die häufig bei Vereinfachungen und Verengungen der Perspektive stehen bleibt, fällt auf, dass reflektierte und differenzierte Texte zuletzt vor allem im Bereich der Literatur erschienen sind. Bemerkenswerte Perspektiven auf die Nachwendezeit in Ostdeutschland finden sich insbesondere in Büchern von Autor*innen, die in den späten 1970er und 1980er Jahren in der DDR geboren wurden und die Nachwendezeit nun auf je verschiedene Weise als Gewaltgeschichte erzählen. Zu den in diesem Zusammenhang meistdiskutierten Büchern gehören Daniel Schulz‘ 2022 veröffentlichter Roman Wir waren wie Brüder und Anne Rabes im Frühjahr 2023 erschienener Roman Die Möglichkeit von Glück, die an diesem Abend in Lesungen und Gesprächen vorgestellt und diskutiert werden.
Anne Rabe ist zunächst als Dramatikerin, Drehbuchautorin und Essayistin bekannt und mehrfach ausgezeichnet geworden, als Drehbuchautorin war sie an der Fernsehserie Warten auf’n Bus beteiligt. Die Möglichkeit von Glück, in diesem Jahr auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis nominiert, ist ihr Prosadebüt.
Daniel Schulz leitet das Ressort Reportage bei der taz. 2018 erhielt er den Reporterpreis, 2019 den Theodor-Wolff-Preis, 2023 ist sein Buch Ich höre keine Sirenen mehr. Krieg und Alltag in der Ukraine erschienen. Wir waren wie Brüder ist sein Prosadebüt.
Moderation: Professor Dr. Eckhard Schumacher (Greifswald)
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Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück (Klett-Cotta, 2023)
In der DDR geboren, im wiedervereinigten Deutschland aufgewachsen. Als die Mauer fällt, ist Stine gerade einmal drei Jahre alt. Doch die Familie ist tief verstrickt. In ein System, von dem sie nicht lassen kann, und in den Glauben, das richtige Leben gelebt zu haben. Bestechend klar und kühn erzählt Anne Rabe von einer Generation, deren Herkunft eine Leerstelle ist. Stine kommt Mitte der 80er Jahre in einer Kleinstadt an der ostdeutschen Ostsee zur Welt. Sie ist ein Kind der Wende. Um den Systemwechsel in der DDR zu begreifen, ist sie zu jung, doch die vielschichtigen ideologischen Prägungen ihrer Familie schreiben sich in die heranwachsende Generation fort. Während ihre Verwandten die untergegangene Welt hinter einem undurchdringlichen Schweigen verstecken, brechen bei Stine Fragen auf, die sich nicht länger verdrängen lassen. Anne Rabe hat ein ebenso hellsichtiges wie aufwühlendes Buch von literarischer Wucht geschrieben. Sie geht den Verwundungen einer Generation nach, die zwischen Diktatur und Demokratie aufgewachsen ist, und fragt nach den Ursprüngen von Rassismus und Gewalt.
Daniel Schulz: Wir waren wie Brüder (Hanser Literaturverlage, 2022)
Er ist zehn, als in der DDR die Revolution ausbricht. Während sich viele nach Freiheit sehnen, hat er Angst: vor den Imperialisten und Faschisten, vor denen seine Lehrerinnen ihn gewarnt haben. Vor dem, was kommt und was er nicht kennt. Wenige Jahre später wird er wegen seiner langen Haare von Neonazis verfolgt. Gleichzeitig trifft er sich mit Rechten, weil er sich bei ihnen sicher fühlt. So sicher wie bei Mariam, deren Familie aus Georgien kommt und die vor gar nichts Angst hat. Doch er muss sich entscheiden, auf welcher Seite er steht. “Wir waren wie Brüder” ist eine drastische Heraufbeschwörung der unmittelbaren Nachwendezeit – und ein nur allzu gegenwärtiger Roman über die oft banalen Ursprünge von Rassismus und rechter Gewalt.