
Die nordische Avantgarde ist in den zurückliegenden Jahrzehnten zusehends in den Blickpunkt der Forschung gerückt, (s. z.B. Ørum & al. 2012-2022). Eine eigenständige Gesamtdarstellung der finnischen Avantgarde liegt noch nicht vor, doch wird auch diese zunehmend erforscht (z.B. Hautamäki & al. 2021).
Radikale, mit den Gewohnheiten des Publikums brechende Kunst aller Genres wurde in auch in Finnland lange vor und jenseits kunsttheoretischer Theoriebildung sprachlich vielfältig reflektiert: Tyko Sallinens Kunst wurde „radikaler Geist des Rausches“ attestiert (1911). Elmer Diktoniusʼ Appell Ikkunat auki Eurooppaan päin (1922) kann als konzentriertes Programm der ersten finnischen Avantgardephase gelten. Niels Ringboms Verdikt barnkammeroväsen ʻKinderzimmerlärmʼ für das erste Happening-Konzert der Gruppe Musiikkinuoriso (1962) wurde, zu lastenkamarikonsertti modifiziert, ein Schlagwort einer kurzen, aber intensiven Epoche der finnischen musikalischen Moderne.
Diese charakteristischen Beispiele aus drei Kunstgattungen und Epochen finnischer Avantgarde lassen bereits erkennen, dass die sprachliche Konstruktion und Bewältigung des Phänomens ‚Avantgarde‘ ein vielversprechendes Untersuchungsthema ist. Sie verweisen jedoch zugleich auf ein Grundproblem: ‚Avantgarde‘ wurde je nach Zeit und Akteursperspektive ganz unterschiedlich beurteilt und beschrieben. Eine unumstrittene und für einen längeren Zeitraum gültige kunsthistorische Definition dürfte man daher kaum finden, und auch eine begriffsgeschichtliche Erforschung von ‚Avantgarde‘ gilt als Desiderat (Sjöberg 2020: 160).
Diese Forschungslücke führt zu dem zentralen Forschungsansatz des Vorhabens, nämlich einer ausdrücklich linguistischen Analyse von Konstruktionen des Konzepts ‚Avantgarde‘ in Finnland. Im Sinne der Idee eines „sprachlichen Weltbildes“ (zurückgehend auf die klassischen Entwürfe der Konstruktion von Welt durch Sprache) sollen also Begriffsumfang und -inhalt von ‚Avantgarde‘ aus sprachlichen Reaktionen auf künstlerische Praktiken erschlossen werden.
Das Vorhaben geht von zwei Grundannahmen aus: (1) Kunstdiskurse können in peripheren Kulturräumen eine fokussierende Funktion haben, weil in anderen Kulturräumen entstandene künstlerische Innovationen in einem receiver country wie Finnland als „Explosionen“ im Sinne Lotmans (2009) erscheinen. (2) In sprachlich-diskursiven Reaktionen auf solche als disruptiv wahrgenommene, konflikthafte Phänomene werden gesellschaftliche Mentalitäten und deren Wandlungsprozesse besonders deutlich erkennbar. Eine Studie am Fallbeispiel Finnland, so die Arbeitshypothese, lässt daher Ergebnisse und Erkenntnisse erwarten, die geeignet sein könnten, konventionelle begriffliche Bestimmungen von ‚Avantgarde‘ zu erweitern.
Further reading
- Corum, James S., Mertelsmann, Olaf and Piirimäe, Kaarel. The Second World War and the Baltic States. Berlin: Peter Lang Verlag, 2014.